MACH
SOL LEWITT an EVA HESSE, 14. April 1965
     Als sich die beiden amerikanischen Avantgardekünstler Sol LeWitt und Eva Hesse im Jahr 1960 zum ersten Mal trafen, waren sie sofort auf einer Wellenlänge, und es bildete sich schnell eine starke, tiefe Verbundenheit, die zehn Jahre währen sollte und zu unzähligen inspirierenden Diskussionen und einem fruchtbaren Austausch von Ideen führte. Sie blieben sehr enge Freunde, bis Hesse im Mai 1970 mit gerade einmal 34 Jahren bedauerlicherweise an einem Gehirntumor starb.

     Im Jahr 1965, auf halber Strecke ihrer Freundschaft, durchlief Eva Hesse in einer Phase des Selbstzweifels eine Schaffenskrise und erzählte LeWitt von ihrer frustrierenden Lage. Ein paar Wochen später antwortete LeWitt mit dem hier abgedruckten Kunstwerk – einem wunderbaren, unschätzbar wertvollen Brief freundschaftlichen Rats, der seitdem Künstler in aller Welt inspiriert hat und dessen Kopien Atelierwände überall auf dem Globus zieren.
     14. April

     Liebe Eva,

     es ist inzwischen fast einen Monat her, dass Du mir geschrieben hast, und vermutlich hast Du Deinen Gemütszustand längst vergessen (das wage ich allerdings zu bezweifeln). Du scheinst dasselbe durchzumachen wie immer, und wie Du nun einmal bist, hasst Du jede Minute davon. Hör auf damit! Lern endlich, der Welt hin und wieder ein „Fick Dich“ entgegenzuschmettern. Das ist Dein gutes Recht. Hör einfach auf zu denken, zu zweifeln, zu fürchten, zu brüten, zu grübeln, zu grämen, auf einen einfachen Ausweg zu hoffen, zu kämpfen, klammern, irren, wirren, jucken, kratzen, bummeln, brummeln, grummeln, fummeln, mummeln, schummeln, zu wurschteln, zu stolpern, zu straucheln, zu taumeln, zu schmieren, monieren, pausieren, parieren, lavieren, laborieren, lamentieren, projizieren, analysieren, demontieren, dahinzuvegetieren, zu zuckeln, zu zocken, zu buckeln, zu bocken, hör auf mit dem Mistbauen, Haarespalten, Korinthenkacken, Hosenscheißen, Nasebohren, Kopfkratzen, Fingerzeigen, Herumlungern, Trippelschrittemachen, Miesepetern, Rückenkraulen, zu maulen, jaulen, verfaulen, zu rackern, zu rackern, dich selbst abzurackern. Hör einfach auf damit und

MACH

     Nach Deiner Beschreibung und Deinen bisherigen Arbeiten und Deinen Fähigkeiten zu urteilen, klingt das, woran Du gerade arbeitest, sehr gut: „Zeichnung – sauber – klar – aber verrückt wie Maschinen, größer und gewagter ... völliger Quatsch.“ Das klingt doch gut, großartig – völliger Quatsch. Mach mehr davon. Mehr Quatsch, mehr Verrücktes, mehr Maschinen, mehr Brüste, Penisse, Fotzen, egal – soll es doch strotzen vor Quatsch. Versuch, etwas in Dir wachzukitzeln, Deinen „schrägen Humor“. Dring in Dein geheimstes Inneres vor. Versuch nicht, cool zu sein, schaff Dir Dein eigenes Uncool. Schaff Dir etwas Eigenes, Deine ureigene Welt. Wenn Du Angst hast, mach sie Dir zunutze – zeichne & male Deine Furcht & Angst. Und hör auf, Dir Gedanken um große, tiefschürfende Dinge zu machen wie „sich für einen Lebenssinn und eine Lebensweise zu entscheiden, eine konsequente Herangehensweise sogar an ein unmögliches Ende oder an ein eingebildetes Ende“. Du musst Dich darin üben, doof, dumm, gedankenlos, leer zu sein. Dann wirst Du in der Lage sein, Dein Ding durchzuziehen, also

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     Ich habe großes Vertrauen in Dich, und auch wenn Du Dich fürchterlich quälst, ist Deine Arbeit wirklich gut. Versuch mal, etwas SCHLECHTES zu machen – das Schlechteste, was Du Dir vorstellen kannst, und guck, was passiert, vor allem aber entspann Dich und scheiß auf alles – Du bist nicht für die ganze Welt verantwortlich – Du bist nur für Deine Arbeiten verantwortlich – also MACH ENDLICH. Und glaub nicht, dass Deine Arbeiten irgendeiner vorgefertigten Form, Idee oder einem Geschmack entsprechen müssen. Sie können genau so sein, wie Du sie haben willst. Aber wenn es Dir das Leben leichter machen würde, mit dem Arbeiten aufzuhören – dann hör auf. Bestraf Dich nicht selbst. Allerdings glaube ich, dass die Arbeit so tief in Deinem Wesen verwurzelt ist, dass es leichter wäre, einfach loszulegen, also

MACH

     Ich schätze aber, ich verstehe Deine Haltung ein bisschen, weil ich immer mal wieder einen ähnlichen Prozess durchmache. Ich erlebe eine „Quälende Neubewertung“ meiner Arbeit und ändere so viel wie nur möglich – und hasse alles, was ich gemacht habe und versuche, etwas völlig Anderes und Besseres zu machen. Vielleicht brauche ich einen solchen Prozess, um mich immer weiter und weiter voranzutreiben. Das Gefühl, dass ich ja wohl etwas Besseres zustande bringe als die Scheiße, die ich da gerade eben fabriziert habe. Vielleicht brauchst Du diese Quälerei, um das, was Du machst, überhaupt zu schaffen. Und vielleicht spornt sie Dich dazu an, es noch besser zu machen. Aber ich weiß, wie mühsam das ist. Es wäre besser, wenn Du das Selbstvertrauen hättest, den Kram einfach zu machen und gar nicht erst darüber nachzudenken. Kannst Du nicht einfach die „Welt“ Welt und die „KUNST“ Kunst sein lassen, und vor allem aufhören, Dein Ego zu streicheln. Ich weiß, dass Du (genau wie jeder Andere auch) nicht die ganze Zeit arbeiten kannst und den Rest der Zeit wieder mit deinen Gedanken alleine bist. Aber bei der Arbeit oder vor der Arbeit musst Du Deinen Verstand leeren und Dich darauf konzentrieren, was Du machst. Und wenn Du fertig bist, bist Du fertig, Feierabend, Schluss, Aus. Nach einer Weile merkst Du, dass einiges besser ist als anderes, aber Du merkst auch, in welche Richtung das Ganze geht. Aber das weißt du sicher alles. Du solltest auch wissen, dass Du Deine Arbeit nicht rechtfertigen musst – nicht einmal vor Dir selbst. Und Du weißt, dass ich Deine Arbeit sehr bewundere und nicht verstehe, warum Du Dich damit so plagst. Aber Du siehst auch, was als nächstes kommt & ich nicht. Du musst einfach Vertrauen in Deine Fähigkeiten haben. Ich glaube, das hast Du. Also probier die haarsträubendsten Dinge aus, die Du Dir vorstellen kannst – schockier Dich selbst. Du besitzt die Fähigkeit, absolut alles zu tun.

     Ich würde Deine Arbeiten gern sehen, werde mich aber noch bis Aug oder Sept gedulden müssen. Ich habe Fotos von Toms neuen Sachen bei Lucy gesehen. Sie sind ziemlich beeindruckend – vor allem die mit den strengeren Formen; die schlichteren. Ich schätze mal, er schickt demnächst noch ein paar. Lass mich wissen, wie die Ausstellungen laufen und so weiter.

     Meine Arbeiten haben sich verändert, seit Du weg bist, und sind wesentlich besser geworden. Ich habe vom 4.-29. Mai eine Ausstellung in der Daniels Gallery, 17 E 64th St (wo Emmerich war), und wünschte, Du könntest kommen. Liebste Grüße an Euch beide.

 
Sol Lewitt. MACH. Aus: Letters of Note. Briefe, die die Welt bedeuten. München: Heyne 2014. Aus dem Englischen von Lisa Kögeböhn. Leseprobe.